Bühne des Lesens

Berlins Literatenszene ist deutschlandweit einmalig. Am Sonntag startet ein neues Vorlese-Projekt — der Tagesspiegel ist dabei.

Ihre Texte handeln von Mondlandungen in Mecklenburg-Vorpommern, von verhunzten Heiratsanträgen an Supermarktkassen und von Katzen mit Katzenhaarallergie. Je schräger, desto besser, desto lauter klatscht das Publikum. Und das kommt zahlreich. Jede Woche aufs Neue.

Lesebühnen sind ein Berliner Phänomen. Nirgendwo sonst gibt es so viele feste Zirkel von Autoren, die abends zusammenfinden, um ihre frisch geschriebenen Texte zu präsentieren. Die meisten sind originell, viele skurril, manche nachdenklich bis schwermütig. Aber immer sind sie kurzweilig, was auch daran liegt, dass kaum ein Text länger als fünf Minuten dauert. Diesen Sonntag startet eine weitere Bühne im Theater am Winterfeldtplatz. „LeDeWe“ heißt sie, „Lesebühne des Westens“. Bisher sind die Runden nämlich vor allem in den Ostbezirken zu Hause. „Wir wollen das Konzept tief in den Westen reintragen“, sagt Kabarettist und Mitveranstalter Arnulf Rating. Deshalb LeDeWe. Ob das denn nicht Ärger mit dem KaDeWe gebe? „Ich glaube nicht, dass die sich beschweren werden“, sagt Rating. „Wir sind uns doch sehr ähnlich: Wir verkaufen beide extrem gute Ware.“

Die Lesebühnen gehören für Rating gar zu den „stärksten Standortfaktoren Berlins“. Weil es sich eben um eine Szene mit Substanz handele, die immer wieder große Talente hervorbringe. So kam etwa Wladimir Kaminer erst über seine Lesebühnen-Tätigkeit zum Schreiben. Auch Wiglaf Droste war hier mal aktiv. „Leider stehen die Bühnen noch zu wenig in der Öffentlichkeit.“ Doch Rating ist sich sicher: „Da sind so einige Schätze, die noch gehoben werden können.“

Im Gegensatz zu anderen Bühnen soll das Konzept der LeDeWe zunächst bewusst offen bleiben, Auftritte von Kabarettisten und Musikern sind denkbar. Und: Regelmäßig sollen hier Autoren des Tagesspiegel lesen. Zum Start ist diesen Sonntag Redakteurin Esther Kogelboom zu Gast, sie wird einige ihrer Kolumnen mitbringen.

Auch sonst hat sich die Berliner Szene in den vergangenen Monaten weiterentwickelt: Die „Surfpoeten“, die sechs Jahre lang im Mudd-Club in der Oranienburger Straße auftraten, sind gerade in das geräumigere Ballhaus Ost in Prenzlauer Berg umgezogen. Und die „Lesedüne“, im Sommer an der Strandbar Kiki Blofeld zu Hause, hat im Görlitzer Park ein Winterquartier gefunden.

Einträglich ist das abendliche Gruppenlesen nicht, der Eintritt kostet meist nur vier bis sechs Euro. Ihren Lebensunterhalt verdienen die meisten Autoren über Nebentätigkeiten. Der 36-jährige Andreas Krenzke etwa, seit elf Jahren bei verschiedenen Bühnen aktiv und Mitgastgeber der neuen „LeDeWe“, tritt nebenher beim Quatsch Comedy Club auf, lässt sich vom Goethe-Institut buchen und veröffentlicht Bücher.

Was auffällt: Die aktuellen Lesebühnen sind fast ausschließlich männlich besetzt. „Den Grund kennen wir selbst nicht“, sagt Spider. „Aber wir wären froh, wenn sich das ändern würde.“ Etwas höher ist der Frauenanteil beim Slam Poetry. So heißt der Dichterwettstreit, bei dem im Gegensatz zur Lesebühne jeder spontan mitmachen darf und bei dem die Texte von einer Jury bewertet werden. Die Berliner Slam-Szene hat bereits einige deutsche Meister hervorgebracht, zuletzt den zweifachen Gewinner Marc-Uwe Kling, der auch festes Mitglied der Kreuzberger „Lesedüne“ ist. Das Fernsehen entdeckt gerade das Genre für sich: Der WDR lässt sonntagabends Slam-Autoren vorlesen, Sat 1 plant ein eigenes Format mit Moderatorin Sarah Kuttner. Den Besuchern der Berliner Leserunden werden viele Gesichter dort sicher sehr bekannt vorkommen.

© Tagesspiegel, 31.01.2008